Ohne Polizei ist ganz nett
Anlässlich der von verschiedenen Antifa-Gruppen am 21. November 2009 durchgeführten alljährlichen Demonstration zum Gedenken an den 1992 von Neonazis ermordeten Hausbesetzer und Antifaschisten Silvio Meier führten die Kritischen Jurist_innen an der Freien Universität Berlin und der arbeitskreis kritischer juristinnen und juristen an der Humboldt-Universität zu Berlin (akj-berlin) gemeinsam mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie eine Demonstrationsbeobachtung mit 20 BeobachterInnen durch. Da es bei vergleichbaren Versammlungen immer wieder zu Beschränkungen der Demonstrationsfreiheit, zu Auseinandersetzungen mit und Übergriffen durch die Polizei kam, war es unser Ziel, als von der Polizei und den VeranstalterInnen unabhängige BeobachterInnen den Demonstrationsverlauf zu dokumentieren.
Entsprechend der neuen Rechtssprechung des Verwaltungsgerichts Berlin, wonach das Tragen von Stahlkappenschuhen sowie die Mitnahme von Seitentransparenten von mehr als 2 Meter Länge kein pauschaler Ausschlussgrund für DemonstratInnen sind, wurden die Auflagen der Polizei gegenüber den Vorjahren teilweise angepasst. Allerdings zeigte sich bei den umfangreichen und intensiven Vorkontrollen, dass die Einsatzkräfte weder mit den konkreten Auflagen noch mit der neuen Rechtslage vertraut waren. Hierbei kam es bereits zu zwei vorübergehenden Ingewahrsamnahmen wegen angeblicher Verstöße gegen das Versammlungsgesetz. Nicht in jedem Fall war gewährleistet, dass Frauen nur von Polizeibeamtinnen abgetastet und durchsucht wurden.
Kristina Tiek von den Kritischen Jurist_innen FU erklärt hierzu: „Vorkontrollen dürfen eigentlich nur zu Gefahrenabwehrzwecken durchgeführt werden. Einmal mehr zeigte sich, dass solche Maßnahmen oft schikanösen Charakter haben und TeilnehmerInnen einschüchtern.“
Begrüssenswert ist, dass die Polizei während des Verlaufs der Demonstration nur vereinzelt uniformiert und zunächst sehr zurückhaltend auftrat, sodass sich die Demonstration weitgehend ungestört entfalten konnte. Insbesondere verzichtete die Polizei darauf, die Versammlung im Spalier abzuschirmen. Dafür wurde der Zug von einer größeren Zahl nicht uniformierter Polizeikräfte begleitet, die sich entgegen den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes gegenüber den VeranstalterInnen nicht zu erkennen gegeben hatten. Dies wurde in Redebeiträgen auch mehrfach als Störung thematisiert.
Wie in den letzten Jahren auch befanden sich weder Wasserwerfer noch Räumfahrzeuge in Sichtweite der Demonstration. Dieses Vorgehen hatte eine spürbar deeskalierende Wirkung. An mehreren Stellen wurde der gesamte Zug von polizeilichen Videotrupps aufgenommen, wofür ein Anlass nicht ersichtlich war. Zu kritisieren bleibt weiterhin das Verhalten einzelner BeamtInnen gegenüber DemonstrantInnen. So beobachteten wir einen Beamten der 23. Einsatzhunderschaft an der Ecke Simon-Dach-Str./Grünberger Str., der sich berechtigt glaubte, wahllos auf die hinter einem Transparent stehenden TeilnehmerInnen einzuschlagen. Dem besonnenen Verhalten der umstehenden TeilnehmerInnen ist es zu verdanken, dass die Situation nicht eskalierte.
Bereits im Verlauf der Demonstration kam es zu mehreren Festnahmen. Bei einer nahe des Bersarinplatzes durchgeführten Festnahme wurde unverhältnismäßig Gewalt ausgeübt, als mehrere Beamte einen Teilnehmer, der angeblich eine Polizeikette überwinden wollte, auf den Straßenbahnschienen zu Boden brachten und seinen Kopf mehrfach gegen die Gleise stießen.
Die Versammlung wurde 18:34 Uhr in der Boxhagener Straße/Simon-Dach-Straße für beendet erklärt. Nach Angaben der VeranstalterInnen sollte damit einem für die Abschlusskundgebung erwarteten leichteren Zugriff der Polizeikräfte vorgebeugt werden. Zu diesem Zeitpunkt waren viele Polizeikräfte mit Helmen und in voller Einsatzmontur vor Ort. In der Folge entstand eine unklare Situation. So hatten viele TeilnehmerInnen in dem langgezogenen Zug zunächst keine Kenntnis von der Beendigung der Versammlung.
Die Polizei führte nun mehrere Verhaftungen durch und sperrte Straßenteile ab, wobei auch Hunde zum Einsatz kamen. Ein klares Konzept war jedoch lange nicht erkennbar. In der Niederbarnimstraße wurde durch irritierende Absperrungen zeitweilig eine kesselartige Situationen geschaffen. Dabei kam es zu anscheinend willkürlichen Verhaftungen und leichtfertigen Einsätzen von Pfefferspray, die viele Umstehende trafen. Auch bei den Verhaftungen beobachteten wir unangemessenen Gewalteinsatz.
Stefanie Richter, Sprecherin des akj-berlin: „Leider mussten wir feststellen, dass unsere Arbeit als DemonstrationsbeobachterInnen nach Versammlungsende massiv behindert wurde. So wurde gegen fünf BeobachterInnen ein unbegründeter Platzverweis ausgesprochen, wobei ein Beamter verbal ausfällig wurde. Seine Dienstnummer hat er selbstverständlich auch nicht herausgegeben. Insgesamt ist also festzuhalten, dass sich die Polizei während des friedlichen Verlaufs der Demonstration kooperationsbereit zeigte. Sobald die Situation jedoch zu eskalieren drohte, wurde unsere Arbeit beeinträchtigt.“
Angesichts der auch diesmal wieder festgestellten unverhältnismäßigen Übergriffe halten wir an der Forderung einer allgemeinen, auch im „geschlossenen Einsatz“ durchgesetzten Kennzeichnungspflicht für PolizeibeamtInnen (z.B. durch an den Uniformen offen angebrachte individuelle Kennungen) fest. Angesichts der anfänglichen Zurückhaltung der Polizei verlief die heutige Demonstration friedlicher und ungestörter als viele zuvor von uns beobachtete Versammlungen. Einmal mehr zeigte sich, dass die Versammlungsfreiheit am besten durch die Abwesenheit staatlicher Reglementierung verwirklicht wird.