Freitag, Januar 25, 2008

»Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten!« Diesem brutal offenen Spruch kann eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden. Insbesondere ein paar JournalistInnen sollte er in regelmäßigen Abständen vor die Nase gehalten werden, entweder als Pop-Up, der alle fünf Minuten auf dem Rechner aufploppt oder als Leitspruch in den Redaktionsräumen in der Größe der chinesischen Parteitagsdeko.

Der Anlass für den Überschuss an Gallensekret? Spiegel Online berichtet über die Kritik an dem Bundesverfassungsrichter in spe, Horst Dreier. Den haben die Grünen aufgefordert, sich von seinem Standpunkt zu distanzieren, die Menschenwürde verbiete nicht per se den Einsatz von Folter zur Rettung vor einem Massenmord. In dem Artikel heißt es:

In seinem Grundgesetzkommentar, einem Standardwerk für Jurastudenten, argumentiert Dreier, …

»Standardwerk für Jurastudent[Inn]en«? Bei dem »Dreier« handelt es sich wohlgemerkt um ein dreibändiges Werk zum Preis von ca. 600 € (Verlagsanzeige). Der ist maximal insoweit Standardwerk, als jede/r Studierende für die Hausarbeiten einen Blick hineinwerfen sollte. Wenn ihn nicht gerade jene soziopathischen KomilitonInnen blockieren, die schon um 08.57 ungeduldig vor der Bibliothekstür warten, um 9:00:17 an die Regale stürzen, 22 Bücher an ihren Platz schleppen, um anschließend für dreieinhalb Stunden Frühstückspause zu machen. Und dann ist ja auch schon Mittag. Mahlzeit!

Was fält SpOn als Nächstes ein? »Der ‚Münchner Kommentar‘, der von jedem Referendar bei den schriftlichen Prüfungen benutzt werden darf.«? Bei soviel Sachkenntnis verwundert auch das Ende des Artikels nicht:

Korrektur: In der ursprünglichen Version des Artikels hatte es geheißen, "alle fünf Bundesgerichte" seien ab 2010 in der Hand von Sozialdemokraten. Richtig ist: Es gibt sechs Bundesgerichte, vier davon werden mit Sozialdemokraten besetzt sein.

Na ein Glück, haarscharf an der Sozen-Diktatur vorbeigeschrammt.

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Mittwoch, Januar 23, 2008

Blog-Veranstaltung



Eine Initiative des Seminars für angewandte Unsicherheit [SaU]

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Dienstag, Januar 22, 2008

Anglicism-free

Samstag, Januar 19, 2008

Zeit-Geistanalyse zum Jugendstrafrecht

Wer glaubt, zur leidigen Debatte um das Jugendstrafrecht, die Ausländerflut und die Volksseelenprediger im hessischen Wahlkampf sei schon alles gesagt, irrt!

Jens Jessen, Feuilletonchef der Wochenzeitschrift "Die Zeit", bringt endlich mal auf den Punkt, worum es wirklich geht. Nicht die Jugendlichen haben hier das Problem, sondern die Alten, ihr Spießertum und die Tatsache, dass sich die Erde weiterdreht, obwohl sie schon lange nicht mehr Schritthalten können. In einer spaßfeindlichen Gesellschaft, deren Konsummehrwert sich auf die Akkumulation von Spaßerlebnissen beschränkt, haben sie ihre Identität längst verloren und suchen ausgerechnet unter denen nach Schuldigen, die noch kräftig dabei sind. Dass Toleranz nicht nur darin besteht, sich nicht in die Angelegenheiten anderer einzumischen, sondern auch verlangt, die eigene Moral zu hinterfragen, und welchen Stellenwert die Aussage von Unangepassten bei typischen Missverständnissituationen hat, kommentiert dieses Video mit beißender Ironie. Lebst Du noch oder sitzt Du schon? Ich habs ja schon immer gewußt: Schuld sind die Rentner!!!!

Viel Spaß beim Lernen: http://de.youtube.com/watch?v=lXhLAdPFROs

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Freitag, Januar 18, 2008

Wahlcomputer und Wahlrecht: Das Wahlgeheimnis

Das Wahlgeheimnis ist eine der Grundsäulen des demokratischen Wahlrechts. Die Entscheidung der Wählerin oder des Wählers darf nicht identifizierbar sein. Es garantiert damit eine freie Wahl, weil ohne Wissen der Wahlentscheidung der einzelnen Wählerinnen und Wähler diese nicht unter Druck gesetzt werden können. Der Staat ist verpflichtet, die geheime Stimmabgabe zu gewährleisten. Dazu muss er den Wahlvorgang organisatorisch und technisch so gestalten, dass es unmöglich ist, die Wahlentscheidung der Wählerin oder des Wählers zu erkennen oder zu rekonstruieren.

Wahlen mit Papierstimmzetteln

Bei einer Wahl mit Papierstimmzetteln lässt sich eine Wahlentscheidung sehr einfach erkennen: Wer Einblick in den Wahlvorgang hat, kann sehen, wo die Wählerin oder der Wähler ihre oder seine Kreuze macht. Diese Einsichtnahme lässt sich dabei genauso leicht verhindern. Erstens wird durch die Verwendung eines Sichtschutzes die Wahlzelle vom Wahllokal so abgetrennt, dass Umstehende keinen Blick auf die Stimmzettel werfen können, während diese von den Wählerinnen und Wählern ausgefüllt werden. Ein solcher Sichtschutz kann natürlich nicht nach allen Seiten geschlossen sein, schon allein damit die Wählerin oder der Wähler selbst den Stimmzettel ausfüllen kann. Auch nach oben sind die meisten Wahlzellen offen. Hier greift dann die zweite Ebene des Schutzes: die organisatorische. Die Nutzung von Spiegeln, Kameras oder anderen Mitteln, mit denen Einblick in die Wahlzelle genommen werden könnte, muss vom Wahlvorstand verhindert werden. Gleiches gilt für den Aufenthalt von mehr als einer Person in einer Wahlzelle, es sei denn, es handelt sich dabei um einen der gesetzlich definierten Ausnahmefälle wie z. B. der Unterstützung für hilfsbedürftige Personen.

Die Schlussfolgerung ist also einfach: Weil die einzige Möglichkeit, den Wahlvorgang einer Person zu beobachten – und damit das Wahlgeheimnis durch diese Beobachtung zu brechen –, auf der Erkennbarkeit der Wahlentscheidung durch Sehen beruht, genügt zum Schutz des Wahlgeheimnisses die Verhinderung jeglicher Einsichtnahme durch Dritte. Diese Aufgabe hat der Gesetzgeber den Wahlvorständen übertragen.

Wahlcomputer

Auch bei Wahlcomputern ist es möglich, visuell zu erkennen, welche Wahlentscheidung die Wählerin oder der Wähler getroffen hat. Daher müssen hier die gleichen technischen und organisatorischen Sicherungsmaßnahmen eingesetzt werden wie bei der Wahl mit Papierstimmzetteln.

Während die visuelle Wahrnehmung bei einer Wahl mit Papierstimmzetteln die einzige Wahrnehmungsmöglichkeit ist, existiert bei Wahlcomputern grundsätzlich noch eine zweite. Computer strahlen – wie alle elektrischen Geräte – immer auch elektromagnetische Strahlung ab. Diese Abstrahlung kann mit geeigneten Geräten gemessen werden und u. U. Rückschlüsse auf die Wahlentscheidung zulassen. (Siehe Wikipedia zu "Van-Eck-Phreaking".) Im Gegensatz zu Techniken wie WLAN, die zur Nutzung zusätzlich installiert werden müssen, ist die elektromagnetische Abstrahlung konstruktionsbedingt nicht zu verhindern.

Zwei Möglichkeiten existieren nun, die daraus resultierende Gefahr für das Wahlgeheimnis zu bannen: eine technische und eine organisatorische. Die technische Lösung ist die Umwandlung des Wahlcomputers in einen Faradayschen Käfig. (Siehe Wikipedia zu "Faradayscher Käfig". Die einzelnen Bauteile im Wahlcomputer strahlen dann immer noch ab, aber diese Abstrahlung verlässt den Wahlcomputer nicht.) Die organisatorische Lösung läuft auf ein Verbot von Geräten hinaus, mit denen solche Strahlung gemessen werden kann, sowie eine absolute Durchsetzung dieses Verbots. In beiden Fällen darf außerhalb der Wahlzelle nicht erkennbar sein, welche Wahlentscheidung in der Wahlzelle getroffen wurde.

Inzwischen mussten die Verantwortlichen in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt – dort müssen die Wahlcomputer vor der Zulassung getestet werden – und der Politik öffentlich eingestehen, dass die derzeit zugelassen und eingesetzten Wahlcomputer eine auch in mehreren Metern Entfernung messbare Strahlung abgeben. Daraufhin erklärten sie erstens, dass die Abstrahlung der Wahlcomputer außerhalb des Wahllokals nicht messbar seien. Und zweitens könne das Wahlgeheimnis durch organisatorische Maßnahmen des Wahlvorstandes geschützt werden.

Beide Argumente sind falsch. Erstens ist es egal, ob die Abstrahlung außerhalb des Wahllokals nicht gemessen werden kann, weil die Wahlzelle – und gerade nicht das Wahllokal – die Grenze der möglichen Erkennbarkeit der Wahlentscheidung darstellt. Zweitens sind solche Empfangsgeräte klein und preiswert und können problemlos unter der Jacke oder in einem Rucksack in das Wahllokal geschmuggelt werden. Daher ist das Problem organisatorisch gar nicht lösbar. Dies zeigt sich schon, wenn es um den Umgang mit Mobiltelefonen mit Kameras geht. Obwohl damit das Wahlgeheimnis gebrochen werden kann und Stimmenkauf so ermöglicht wird, wurden und werden keine Maßnahmen dagegen unternommen.

Der Verweis auf organisatorische Maßnahmen lässt vor allem eines außer Acht: Im Gegensatz zur Wahl mit Papierstimmzetteln wurde für die Wahl mit Wahlcomputern die Pflicht zur Gewährleistung des Wahlgeheimnisses gemäß § 35 Absatz 2 Satz 1 Bundeswahlgesetz explizit den Wahlcomputern selbst übertragen.

Dies lässt nur einen Schluss zu: Die derzeit eingesetzten Wahlcomputer selbst sind nicht gesetzeskonform. Ihre Zulassung zu und Verwendung bei Wahlen war und ist damit rechtswidrig.

Teil I – Das Wahlgeimnis (pdf)

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Wahlcomputer und Wahlrecht: Einführung

In den letzten Monaten und Jahren hat sich eine Diskussion über eine Technologie entwickelt, die angesichts ihres mehr als 45 Jahre währenden Einsatzes erstaunlich ist – es geht um Wahlgeräte und Wahlcomputer. Dabei sollen mit "Wahlgerät" diejenigen Maschinen gemeint sein, die als mechanische Stimmenzählgeräte seit der Bundestagswahl 1961 in Verwendung sind. Demgegenüber handelt es sich bei den im Gesetz als "rechnergesteuerte Wahlgeräte" bezeichneten Maschinen um Wahlcomputer.

Leider wird diese Diskussion an der großen Masse der Menschen vorbei geführt. Während die Befürworterinnen und Befürworter mantramäßig wiederholen, dass Wahlcomputer sicher vor Manipulationen seien, auch weil sie in gesicherten Umgebungen gelagert und betrieben werden, behaupten die Gegnerinnen und Gegner unter Verweis auf von ihnen entwickelte theoretische und durchgeführte praktische Angriffe deren absolute Unsicherheit. Dieser Teil der Diskussion über technische Sicherheitsrisiken wird dabei entweder unter Verwendung extrem pauschaler Behauptungen oder in einer nur für technisch Eingeweihte verständlichen Sprache geführt. Beides wirkt ausgrenzend – ersteres unterminiert sowohl das Vertrauen in den Diskurs als auch in die Diskutierenden, letzteres schließt alle technischen Laien als Mitdiskutierende aus. Ähnliche Ausschließungsmechanismen vollziehen sich in dem anderen Teil der Diskussion, der im wesentlichen vor den Gerichten ausgetragen wird. Das dort verwendete juristische Vokabular – mit seinen in einer eigenen Welt gefangenen Begrifflichkeiten – lässt die Sprechenden über die Köpfe der Zuhörenden reden. In beiden Fällen kann sich dadurch für die meisten Betroffenen am Zustand der Laienhaftigkeit auch nichts ändern – sie waren, sind und bleiben ausgeschlossen.

Wahlen konstituieren demokratische Gesellschaften und mit jeder Wahl vollzieht sich dieser Prozess neu. Demokratische Gesellschaften bestätigen sich mit der Durchführung von Wahlen selbst, sie (re)integrieren die in ihnen vertretenen verschiedenen Interessen in einem gemeinsamen politischen Raum und sie verewigen sich gerade durch die zeitliche Beschränktheit der Macht, die sie mit der Wahl übertragen. Diesen Aufgaben kann eine Wahl jedoch nur dann nachkommen, wenn ihr von den Menschen Vertrauen entgegengebracht wird. Erste Voraussetzung dafür ist, die Mechanismen der Wahl zu verstehen. Dazu zählt auch die eingesetzte Technologie. Während Wahlen auf Papierstimmzetteln für die allermeisten Menschen durchaus verständlich ist, gelten Wahlcomputer nicht ganz ohne Grund für viele als Bücher mit sieben Siegeln. Kann denn aber, wer die Frage nach der Funktionsweise nicht zu beantworten weiß, überhaupt einschätzen, ob eine Wahl tatsächlich die Wahlrechtsgrundsätze – vor allem Wahlgeheimnis, Unverfälschtheit und Öffentlichkeit – erfüllt? Kann es sich eine moderne Demokratie im 21. Jahrhundert überhaupt leisten, dass das Vertrauen in den Wahlprozess auf Unwissenheit basiert?

Vielleicht kann die mit diesem Text beginnende Reihe zum Thema Wahlcomputer und Wahlrecht nicht jede Frage in aller Tiefe beantworten. Allerdings ist das auch nicht das Hauptziel, eher sollen einzelne Punkte in der Diskussion umfassend aber allgemeinverständlich dargestellt werden. Ein Nachteil einer solchen Darstellungsweise sei jedoch nicht verschwiegen: Sowohl in der technischen als auch in der juristischen Welt gehen bestimmte Feinheiten verloren. Die in diesen Bereichen Bewanderten mögen es verzeihen, die anderen werden es vielleicht danken.

Teil 0 – Einleitung (pdf)

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Donnerstag, Januar 17, 2008

Reihe: Wahlcomputer und Wahlrecht

Die Wahlprüfungsbeschwerde zur Bundestagswahl 2005 und die anstehende Landtagswahl in Hessen am 27.01.2008 zeigen es deutlich: Wahlcomputer bleiben in der Diskussion. Nur: Wer versteht denn noch, worum es in der Diskussion geht? Dem soll jetzt eine kleine Schriftenreihe abhelfen.

Technische und juristische Laien haben es schwer. Sie können der Diskussion über Wahlcomputer kaum folgen, weil ihnen spezifisches (Fach-)Wissen fehlt. Sollen sie den Befürworterinnen und Befürwortern von Wahlcomputern vertrauen, dass diese manipulationssicher sind und somit unverfälschte Wahlen garantieren? Oder den Gegnerinnen und Gegnern, die wiederholt Manipulationsmöglichkeiten an den Geräten aufgezeigt haben? Sollte nicht das Verstehen die Grundlage des Vertrauens sein?

Mit dem Ziel, einzelne Probleme im Zusammenhang mit Wahlcomputern zugleich möglichst umfassend und allgemeinverständlich darzustellen, entsteht derzeit eine kleine Schriftenreihe zum Thema "Wahlcomputer und Wahlrecht". Dabei soll jeweils auf wenigen Seiten zu einem wahlrechtlichen Problem Stellung genommen werden, dass sich aus bestimmten technischen Eigenschaften von Wahlcomputern ergibt.

Derzeit sind – neben einer Einleitung – sechs Teile geplant:
  1. Das Wahlgeheimnis

  2. Das Amtlichkeitsprinzip

  3. Das Öffentlichkeitsprinzip

  4. Die Sachverständigkeit der PTB

  5. Die Wahlprüfung

  6. Folgerungen

Bisher sind Teil 0 – Einleitung und Teil I – Das Wahlgeheimnis erschienen.

Auch die folgenden Teile werden nach ihrer Veröffentlichung hier angepriesen.

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Sonntag, Januar 13, 2008

Die Freiheit der Nichtdenkenden

Mit StalinistInnen auf der Liebknecht-Luxemburg-Demo

Als ich 2002 das erste mal auf einer LL-Demo in Berlin war, hat mich der Anblick von Stalin-Portraits noch überrascht und ziemlich geschockt – vermutlich eine etwas naive Reaktion. Ein Gewöhnungseffekt ist jedoch auch bisher nicht eingetreten, und so habe ich heute endlich mal ein paar von den Leuten gefragt, was das eigentlich konkret bedeuten solle. Denn, ganz unter uns, die „Freiheit der Andersdenkenden“ hat mit staatlichen Säuberungsaktionen ja irgendwie nicht so ganz viel zu tun, verträgt sich sogar eher schlecht, oder? Und eine Politik, der es irgendwie um den Menschen und ein gutes Leben geht, müßte doch mit der Deportation und Tötung von Millionen vermeintlicher politischer GegnerInnen zumindest ein kleines Problem haben, dachte ich mir. Daher mein persönliches Fragezeichen: Gehen die Leute, die Stalin-Abbildungen tragen, von niedrigeren Opferzahlen aus? Oder meinen sie, es habe die Richtigen getroffen?

Also sprach ich einen der Träger eines TKP/ML(Türkische Kommunistische Partei/Marxistisch-Leninistisch)-Transpis, auf dem Portraitfotos von Marx, Lenin, Luxemburg und Stalin abgebildet waren, an, ob ich ihn was dazu fragen dürfe, was er bejahte. Okay, wie fragen, ohne zu provozieren? Schwierig. Erstmal eine einleitend-dumme Frage, ob dieses Transpi denn bedeuten würde, daß sie die Politik von Stalin gut finden würden. Seine Reaktion: Ja, und bevor ich über Stalin rede, müsse ich ganz viel wissen, vor allem, daß ich gar nicht hier wäre, wenn Stalin nicht gewesen wäre. Hm, aber Stalins politisches Werk war ja jetzt nicht ausschließlich durch den Krieg gegen Nazi-Deutschland gekennzeichnet. Und es läuft doch auch niemand mit Churchill- oder Roosevelt-Plakaten 'rum, da muß doch noch mehr sein. – Nun, diese Fragen konnte ich dem guten Mann nicht mehr stellen, genauer gesagt durfte er sie nicht beantworten. Weil er nach ca. einer halben Minute des Redens mit mir von einer Frau angesprochen wurde, die ihm offensichtlich bedeutet hatte, nicht mit mir zu reden. Er verlor die gutmütig-onkelhafte Miene, die er vorher noch gezeigt hatte, und wollte nichts mehr sagen. Das fand ich ziemlich schräg und vergewisserte mich daraufhin bei der Frau, ob sie ihm gerade befohlen habe, nicht mit mir zu reden. Ja, sie sei nämlich für die Leute und das Transpi verantwortlich, und ich würde hier provozieren. Und sie seien auf einer Demo, da ginge es nicht darum, zu diskutieren. Das verwunderte mich dann ein wenig, denn immerhin haben Demos ja mit der Kundgabe politischer Meinungen zu tun, und da sollte es doch noch drin sein, auf Fragen zu antworten, wenn mensch sich so eindeutig positioniert. Nein, das sah die Frau nicht so, und es sei ja auch mit der Demo-Plattform abgestimmt, daß es diese Plakat gibt. Oha, eine offizielle Entscheidung! Interessant – ebenso wie die personelle Struktur des Grüppchens um das Transpi herum: hauptsächlich Männer, mit Migrationshintergrund, so 40 Jahre aufwärts. Die Frau, die ihn angepfiffen hatte, schien die einzige Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zu sein und war deutlich jünger. Sie hatte wohl eine nicht nur koordinierende, sondern anleitende Rolle – danach zu urteilen, wie sie mit den Leuten sprach. Eine Art Kindergärtnerin. Jedenfalls stimmte der Transpi-Träger dem zu, dass eine Demo kein Ort für Diskussionen sei. Wenn ich morgen zu ihm nach Hause käme, könnte er mir das erläutern, aber so auf der Demo nicht. Ich kann ziemlich hartnäckig und auch neugierig sein, insofern schlug ich diese Angebot nicht aus, sondern erkundigte mich nach Wann und Wo. Das wollte er mir dann noch nicht verraten, ich solle nach der Demo nochmal wiederkommen, dann könne er mir das sagen. Auch die Kindergärtnerin hielt das für eine gute Lösung, denn jetzt müsse ja das Transpi getragen werden. Ich würde sie später schon noch finden, ich wüßte ja: da, wo ich Stalin sehe, da sind sie dann.

Gesagt, getan, doch leider: mein Gesprächspartner war nicht mehr zu finden. Dabei wollte ich mich doch mit ihm verabreden! Was für ein dummer Zufall aber auch. Dafür war die Kindergärtnerin natürlich noch da, sie war ja die Chefin, und sie hatte dann auch „ein paar Minuten für Dich Zeit“. Danke, Gnädigste. Also habe ich schnell meine eigentlichen Fragen abgespult, lange unterhalten wollte ich mich mit dieser Person nicht unbedingt, aber es interessierte mich doch: Niedrigere Opferzahlen oder legitime Opfer oder was? Ihre Zeit reichte dann doch noch dafür aus, mir einen kleinen Sermon davon vorzutragen, daß das ja alles nicht von Stalin befohlen worden war und auch die Zahlen niedriger waren und das alles westliche Schlechtmacherei sei und die Sowjetunion nach 1956 reaktionär usw. (Mögen alle existenten oder nicht existenten Gottheiten verhindern, daß ich jemals auf unbequeme Fragen so phrasenhaft und ausweichend reagiere!) Aber jetzt müßten sie gehen, und damit war Abmarsch. Da das ganze ja so verflixt schwammig war, versuchte ich noch, ein bißchen nachzuhaken – einfach um ihre Antwort irgendwie für mich selbst bewerten zu können, zwischen den Polen „völlig palle“ und „ja, das ist tatsächlich historisch nicht geklärt“. Aber da stand dann relativ schnell eine Reihe von Männern zwischen mir und ihr, die mir – verbal und non-verbal – mitteilten, daß es jetzt genug sei. Und das fand ich dann auch. (An diese Security-Gruppe: So gefährlich bin ich gar nicht, glaube ich, körperliche Abwehr fand ich ein bißchen übertrieben.)

Tja, und was hat das Ganze gebracht? Ein bißchen Luft, und es hat mir auch meine Empörung nochmal klarer gemacht: Natürlich gibt es alle möglichen seltsamen kleinen Gruppierungen mit fragwürdigem oder explizit beschissenem Profil, über die sich aufzuregen es die Mühe nicht wert ist. Aber wenn nicht nur eine historische Verharmlosung von staatlich organisiertem Unrecht betrieben wird, sondern weiterhin solche klaren Befehlsketten gepflegt werden, wenn auch heute noch abweichende Meinungen von der Basis gar nicht und von der Chefin nur der Form halber zugelassen werden dürfen, und wenn um der Größe der Demo willen die Inhalte solcher Gruppen auf einer Luxemburg(!)-Demo geduldet werden, wenn also die Nähe zu Egal-wem gesucht wird, unabhängig davon, was das mit der Idee macht –

dann ist das doch eher zum abgewöhnen.