Am wochenende war ich auf einer tagung des Forums Justizgeschichte, einer so ungefähr links-liberalen vereinigung, die sich kritisch mit der zeitgeschichte der deutschen justiz beschäftigt. Nach dem ersten abend fragte ich mich, ob es unter umständen sein könne, daß die wenigen jüngeren teilnehmerinnen – mich eingeschlossen – von den älteren teilnehmern, die den großteil der anwesenden darstellten, etwas, nunja, altväterlich behandelt werden. Das bild „nette junge frau“ liegt ja oft sehr nah am „süßen kleinen mädchen“. Oder ob mein eindruck falsch sei und ich in die verhaltensmuster etwas hineinprojizierte, das nicht drin war. Eine kleines indiz erhielt ich am folgenden tag:
Unter der rubrik organisatorisches wies die tagungsleitung darauf hin, daß ein im programm aufgelisteter prof nicht referieren würde. Er werde jedoch durch seine mitarbeiterin vertretern. Diese frau, ca. 25 jahre unterhalb des altersdurchschnitts, war bereits anwesend und somit sichtbar. Sichtbar auch für einen mir bis dahin unbekannten herrn – eher im durchschnittsalter der tagung – der zwei plätze rechts von mir saß und die personelle änderung kommentierte mit: „Die ist ja auch viel netter anzugucken.“
Meine geistige kinnlade klappte hinunter, so etwas unverfrorenes hatte ich dann doch nicht erwartet. In irgendeinem mainstream-konservativen jura-kreis vielleicht schon, aber nicht bei einem verein, der innerhalb der juristischen landschaft ziemlich progressiv ist. Obwohl es also wirklich weh tat, verschob ich diskursive maßnahmen auf später, ich wollte ja nicht stören. Und fragte mich derweil, wer der herr denn sein möge und ob es zulässig sei, von seiner äußerung auf die allgemeine atmosphäre im Forum zu schließen. Ein neben mir sitzender freund konnte mir weiterhelfen: Der betreffende herr, der den hübschen kommentar gemacht hatte, war niemand anders als –
Ingo Müller.
(Zur erklärung: Ingo Müller ist eine autorität. Er ist autor des buchs „Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz“, eines der ersten und extrem wichtigen werke, das die aktiv unterstützende rolle der justiz im nationalsozialismus darstellt. Außerdem ist er jura-prof und im vorstand des Forums Justizgeschichte.)
Am folgenden tag sprach ich ihn tatsächlich noch auf seine äußerung an. Er schien mich ernstzunehmen, aber nur bedingt zu verstehen, denn er hatte die bemerkung natürlich nicht „so gemeint“. Seine deutung, daß ich da vielleicht sehr empfindlich sei, fand ich allerdings wenig hilfreich – noch weniger die intervention eines daneben stehenden, ebenfalls älteren teilnehmers, der sich darüber beschwerte, daß frauen da heutzutage generell sehr empfindlich seien und man gar keine bemerkungen mehr über ihr äußeres machen dürfe, weder positive noch negative.
Der rest meiner anerzogenen höflichkeit verbat es mir, dem hinzugekommenen die gegenfrage zu stellen: Ob er ernsthaft wollen würden, selber nach seinem aussehen beurteilt zu werden. Ebensowenig wies ich ihn darauf hin, daß dafür – schon aus gründen der chancengleichheit – die entsprechende altersdifferenz zwischen der betrachtenden und der betrachteten person hergestellt werden, ergo er sich den bewohnerinnen eines seniorenwohnheims zur beurteilung präsentieren müsste.
Aber wie gesagt, von Müller fühlte ich mich wenn auch nicht verstanden, dann immerhin ernstgenommen, was einen teil meines seelenfriedens wieder herstellte und was ich wirklich zu schätzen weiß. Um es deutlicher auszudrücken: Ich finde erlebnisse dieser art nicht sonderlich witzig. Sexismus ist nicht witzig. Es gibt viel gravierendere formen davon, aber auch die oft als harmlos eingestufte ausdrucksform in gestalt von sprüchen ist ein beitrag zum gesamtproblem und schafft voraussetzungen für andere, massivere formen. Und wenn ein älterer mann bei einer deutlich jüngeren frau, die er nicht kennt und die ihm nicht in einem privaten, sondern in einem wissenschaftlichen kontext begegnet, quasi automatisch ihr äußeres begutachten und das ergebnis seiner einschätzung artikulieren darf, dann zeigt diese situation eine subjekt-objekt-hierarchie, über die nachgedacht werden sollte.